Artikel aus der SZ vom 07.07.2010 als pdf zum Download
Mittwoch, 7. Juli 2010 Süddeutsche Zeitung Nr. 153 / Seite 45
MÜNCHEN
Wenn Riyan Münch-Kühn, die Witwe des Schriftstellers August Kühn, über ihr Leben erzählt, wird die längst versunkene Münchner Vorstadtwelt der Kares und Luckes wieder lebendig Von Wolfgang Görl Nein, bei ihr zu Hause an der Nordheide könne man sich wirklich nicht treffen, da sei nicht aufgeräumt und Zeit dafür habe sie auch nicht, aber das Café Schneller an der Uni wäre ein guter Treffpunkt, sie sei ohnehin in der Nähe, weil sie eine Vorlesung habe, Seniorenstudium, das mache sie schon seit einigen Jahren, also im Café Schneller, sie habe viel zu erzählen, Fotos bringe sie auch mit, doch die müsse sie erst zusammensuchen, übrigens sei sie selber Fotografin, jedenfalls habe sie eine Menge erlebt, es werde Zeit, dass da mal jemand darüber schreibt. So spricht Riyan Münch-Kühn. Ihr Kopf ist voller Geschichten, die müssen raus, auf Chronologie kommt es dabei nicht so drauf an. Sie springt, hingerissen von den Erinnerungen, von einem Jahrzehnt ins nächste und dann wieder zwanzig Jahre zurück, und wenn man nicht aufpasst, ist man hoffnungslos verloren in einem Gestrüpp aus Anekdoten, Schmonzetten und kleinen Abenteuern. Ums Hochdeutsche schert sich die Frau schon gar nicht, sie redet in einem ziemlich deftigen Münchnerisch, das ein wenig an die einst so populäre „Ratschkathl“ Ida Schumacher erinnert. Da kommt es schon mal vor, dass eine Gastwirtin als „bläde Nuss“ tituliert oder das „gschlamperte Gwand“ einer Verwandten beklagt wird. Das klingt nach Vorstadt, nach dem alten München, nach dem ausgestorbenen Milieu der Kares und Luckes, und je länger sie spricht, desto heftiger meldet sich das Gefühl, Riyan Münch-Kühn sei direkt dem berühmtesten Roman ihres Mannes entsprungen. „Zeit zum Aufstehn“ heißt die Familienchronik, die 1975 erschienen ist und die ihren Autor August Kühn für einige Jahre zu einer literarischen Berühmtheit gemacht hat. Kühn starb am 9. Februar 1996. Die Frau, die so redet, als wäre sie eine seiner Figuren, ist seine Witwe. Sommer, Sonne im Univiertel, schicke Studentinnen in luftigen Gewändern stöckeln durch die Amalienstraße, vor dem Café Schneller sitzen Cappuccino-Trinker und rauchen. Nach Riyan Münch-Kühn muss man nicht lange suchen, sie fällt auf mit ihrer olivfarbenen Hose im Military-Look, der blauen Jacke und dem grauen Haar, das als dünner Pferdeschwanz über die Schulter fällt. Sie bestellt Milchkaffee, kramt einen Packen Bilder hervor, Familienfotos: „Da is mei Muata drauf, da der Onkel, mei Vata is ned drauf, der hat wahrscheinli knipst. Der hat guad knipst, des muaß i von eahm g’erbt ham.“ Der Vater, erzählt sie, war Elektroingenieur, die Mutter arbeitete „im feinsten Stoffgeschäft von ganz München“, im Kurz-, Band- und Posamentierwarengeschäft von Heinrich Cohen in der Löwengrube. Cohen war Jude, und 1937 wurde sein Laden, wie es damals so hieß, „arisiert“, da hatte „ein gewisser Herr Stiehler seine Dreckfinger drin“. Herbert Stiehler war bis dahin Chefverkäufer bei Loden-Frey, seine Skrupellosigkeit bei der Aneignung jüdischen Eigentums hat ihm auch nach dem Krieg nicht geschadet, im Gegenteil: Da hatte er seinen Namen mit einem schicken „y“ zu Styler aufgestylt, und als Generalkonsul von Thailand brillierte er in den Fünfzigern als der präpotenteste Gesellschaftslöwe der Münchner Society. Das Treiben des honorigen Herren schildert Riyan Münch-Kühn mit geradezu ätzender Süffisanz, so wie stets Spott und Ironie mitschwingen, wenn von alten und neuen Nazis, Geschäftemachern, Profiteuren oder reaktionären Politikern die Rede ist. Und dabei blitzen ihre Augen auf, so als wollte sie signalisieren: Ich durchschaue sie alle. Mit den Nazis wollte auch ihr Vater nichts zu tun haben. Nicht, weil er ein Roter war, wie später seine Tochter, sein Weltbild entstammte einer anderen Tradition. Franz Weiß war ein Schwarzer, ein „liberaler Schwarzer“ allerdings. „Der war in der Bayernwacht. Kenna S’ eahna vorstelln, was des war?“ „Hm.“ „Des war für die Bayerische Volkspartei desselbe, was der Rot-Front-Kämpferbund für die KPD war. Damals hat fast jede Partei ihrn Schlägerhaufa ghabt.“ In die NSDAP eintreten, wie man es verlangte, wollte der Vater nicht, daraufhin haben sie ihn versetzt: „In das Kaff, wo’s Kinda umbracht habn und Behinderte.“ Kaufbeuren hieß das Kaff. In der dortigen „Heilanstalt“ wurden Kinder Opfer des Rassenwahns der Nazis. In diesem Kaufbeuren ist sie auf die Welt gekommen, „im koidn Winter Oanavierzg“. Dass irgendetwas nicht stimmte in der Heilanstalt, hat sie als Kind mitgekriegt. Da gab es Spielkameraden, die hatten geplärrt: „Da müsst’s herkommen, da wird gestorben.“ Als die Amerikaner einmarschierten, haben sie einen Euthanasie- Arzt festgenommen, und ein anderer, sagt sie, hat sich aufgehängt. „Des war mei Kinderarzt.“ Am 26. Juli 1946 ist die Familie nach München zurückgekehrt, das Datum weiß sie noch genau, denn es war der Namenstag ihrer Mutter Anna. Robert- Koch-Straße 1, das war die erste Adresse, „i bin da ganz normal aufgwachsn in a Schuiklass mit 60 Kindern“. Später ist sie aufs musische Gymnasium gegangen, „des hat mehra ’kost, und es hat koane Watschn gebn“. Eigentlich wollte sie Medizin studieren, aber dafür waren die Noten nicht gut genug. Stattdessen hat sie sich für Deutsch und Geschichte eingeschrieben. Und sie machte bei einer Jugendgruppe mit, die war eher links und hieß „d.j.1.11“, ein Kürzel für „Deutsche Jungenschaft vom 1.11.1929“. Dieser Organisation der bündischen Jugend gehörten seinerzeit die Weiße-Rose-Widerstandskämpfer Hans Scholl und Willi Graf an. Seit je hegte man in diesem Kreis eine Vorliebe für osteuropäische Folklore, und so sangen dann am Abend des 21. Juni 1962 fünf Mitglieder der Jungenschaft russische Volkslieder auf Schwabings Straßen. Riyan Münch-Kühn war nicht dabei, aber die jungen Sänger waren Spezln. Was dann folgte, ist eine berühmte Episode der jüngeren Münchner Geschichte. Auf eine Beschwerde wegen Ruhestörung erschien die Polizei, es kam zu Tumulten, die Beamten setzten den Gummiknüppel ein, woraufhin es mehrere Nächte hintereinander zu Straßenschlachten kam – die Schwabinger Krawalle. Auch Riyan Münch-Kühn ist in den Sechzigern mit Gitarre und Balalaika durch die Stadt gezogen. In Schwabinger Kneipen ist sie aufgetreten, hat „mit Begeisterung“ Wolf Biermanns Soldatenlied („Soldaten sehn sich alle gleich, lebendig und als Leich“) gesungen, russische, griechische, spanische Lieder, „ois, bloß nix Englischs“. Irgendwann ist ihr dabei August Kühn begegnet, „der saß mit so Leutn da am Tisch“. Danach ist es schnell gegangen mit den beiden, „das war gsuacht und gfundn, irgendwie merkt man des“. August Kühn alias Helmut Münch alias Rainer Zwing, geboren 1936 in München. Er liebte das Versteckspiel mittels Pseudonymen, genau wie seine Frau: „Riyan – ist das der richtige Name?“ „Na, des is a Spitznam.“ „Und der Taufname? „Na, na, na, ich führ meine Taufnamen nur für Polizei, Bankkonten und Bürokratiekrimskrams.“ Ähnlich geheimnistuerisch verfuhr August Kühn mit seinem Namen, und er hatte ein diebisches Vergnügen daran. Aber vielleicht spielt da noch etwas anderes mit, eine latente Angst aus Kindertagen. Kühns Vater war jüdischer Abstammung. Um der Verfolgung zu entgehen, verbrachte der Sohn mit seiner Mutter die Kriegsjahre im Exil in der Schweiz. 1945 kehrte er nach München zurück, absolvierte später eine Lehre als Optikschleifer bei Rodenstock, er war Journalist, Kabarettist, Lohnarbeiter bei einer Speiseeisfirma, die ihn rauswarf, weil er einen Betriebsrat gründen wollte. Hier ein Job, da ein Job und schließlich arbeitslos. Da hatte er Zeit zum Schreiben, viel Zeit. Und die nutzte er. Er schrieb über die einfachen Leute, schilderte, wie sie sich durchs Leben mühten, mal im aufrechten Gang, mal mit krummem Rücken. In den achtziger und neunziger Jahren sah man ihn oft auf literarischen Empfängen, Feten oder politischen Veranstaltungen der linken Szene: ein verschmitzt dreinschauender Mann mit schütterem Ziegenbart und langen Koteletten. Gestützt auf einen Gehstock humpelte er durch die Reihen, das kaputte Bein war die Folge eines Autounfalls. Kühn war Kommunist, Mitglied der DKP, und er war ein scharfzüngiger Polemiker, der mit Vorliebe Franz Josef Strauß aufs Korn nahm. Als er 1982 den Ernst-Hoferichter-Preis der Stadt München erhielt, blieb der damalige Bürgermeister Winfried Zehetmeier (CSU) der Preisverleihung fern, weil er einem „DKP-Polit-Agitator“ nicht die Hand schütteln wollte. Als die Geschichte mit Riyan begann, hat Kühn gerade versucht, „seinen Unfall zu verdauen“. „Mir san in a Privatwohnung ghockt, ham furchtbar rumblädelt und Musi gmacht, und in der Früh hamma beschlossen, ein Paar zu wer- Nach einer durchfeierten Nacht haben sie beschlossen, ein Paar zu werden: Riyan Münch-Kühn und August Kühn in späteren Jahren. Bald feierten die beiden eine „schöne rote Hochzeit“, alte Genossen, Gewerkschaftler waren dabei und die jungen Leute vom SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Riyan Münch-Kühn war noch immer Studentin. Eine Achtundsechzigerin, die mit der Klampfe kämpft. „Musi und Verserl macha, des hab i bessa kenna, mit der Prosa hab ichs ned so.“ Ein richtiger Beruf wurde nicht daraus. „I hab ois Mögliche gmacht, und wenn i sag, i bin a ewiger Student, wars a ned glogn. Und irgendwann war i bloß no Hausfrau.“ Das war, als die Kinder kamen, eines nach dem anderen, insgesamt fünf. Sie kümmerte sich um den Haushalt, er schrieb. Schrieb unter anderem „Zeit zum Aufstehn“, die Arbeitersaga, die im 19. Jahrhundert beginnt. August Kühn hat akribisch recherchiert, es muss eine Heidenarbeit gewesen sein. Seine Frau las manchmal Korrektur. Kühn kam vom Schreibtisch nicht mehr weg, es gab ja so viel zu berichten: die Dreckarbeit in den Fabriken, das Proletarierleben in feuchten engen Wohnung, die Streiks und Polizeiaktionen, die Willkür der Justiz, die ganze Vielfalt des mal großartigen, mal tristen Lebens von vier Generationen. Er tauchte ein in die Vergangenheit, um nachfühlen, wie es war, als mit der gescheiterten Revolution 1918/19 die Hoffnungen der Arbeiter schwanden und die Bewegung sich spaltete, so dass die Nazis leichtes Spiel hatten. Das Buch erreichte eine Millionenauflage, es gab eine Fernsehverfilmung – dann wurde es vergessen. Sehr zu Unrecht. Riyan Münch-Kühn blättert wieder in den alten Fotos. Bilder von Ausflügen in die Berge, die Kinder posieren am Gipfelkreuz. Dann ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie August Kühn mit Zinnfiguren spielt. Die Zinnfiguren hat er selbst gegossen, Kühn hatte große Freude daran, historische Schlachten en miniature nachzustellen. Und dann erinnert sich sie sich an den 4. November 1995, als im Fernsehen die Nachricht kam, der israelische Ministerpräsident Rabin sei ermordet worden. „Da hat der August plötzlich ausgschaut, als ob er abnippeln tät. Wenn i je in meim Lebn a Stoßgebet gmacht hab – i bin ja ned sehr gläubig –, nacha wars da.“ Damals weilten sie in ihrem Austragshäusl in Hinterwössen, das sie als ländliches Refugium gepachtet Vielleicht wird sie sich doch noch aufraffen, ihre Memoiren zu schreiben. hatten. Einige Monate später, im Februar, war Kühn wieder dort, diesmal allein. Als sich nichts mehr rührte im Haus und keine Spuren im Schnee waren, holten die Nachbarsleute die Polizei. Man fand Kühn tot in seinem Zimmer. Noch viel mehr hat sie an diesem Nachmittag im Café Schneller erzählt. Vielleicht wird sie sich doch aufraffen, ihre Memoiren zu schreiben, auch wenn sie’s mit der Prosa nicht so hat. Was gäbe es noch zu berichten: Wie man in ihrer Familie schamhaft darüber schwieg, dass unter den Vorfahren Juden waren. Wie auf der Schwanthalerhöhe, wo sie mit August Kühn etliche Jahre wohnte, das alte Arbeitermilieu verschwand, sofern es die Nazis nicht schon vernichtet hatten. Oder wie sie ihren Mann verblüffte, als sie aus der DKP austrat, mit der Begründung, sie möge keine „totalitären Organisationen“. Und dann gibt es noch die Geschichten, bei denen sie so listig dreinschaut, dass man das Gefühl hat, sie nimmt einen auf den Arm: „Wie, bitteschön, kommt es zum Spitznamen Riyan?“ Ironisches Lächeln. „Das is a Samurai-Name. Mehr sog i ned. Des steht dann in meine Memoiren.“ August Kühns Roman „Zeit zum Aufstehn“ ist kürzlich im Verlag „Das Freie Buch“ wiedererschienen.