Süddeutsche Zeitung

Artikel aus der SZ vom 10.12.2009 als pdf zum Download

Der Westend-Roman "Zeit zum Aufstehn" wird neu aufgelegt

Chronist der kleinen Leute

Verein zur Förderung der Münchner Arbeiterkultur hat sich dem Leben und Werk August Kühns verschrieben


Von Andrea Schlaier

Dieser aus der Zeit gefallene Terminus riecht nach Maschinenöl, hat was von geballten Proletarierfäusten und Schwielenhänden, deren Trauerfurchen keine Kernseife der Welt mehr verschwinden lassen kann. Selbst für Nikola Jankowsky ist er ein Begriff der gelesenen Vergangenheit: der "Verein zur Förderung der Münchner Arbeiterkultur". Die junge Frau, 27 Jahre, Studentin der Kulturwissenschaften, hat vor sieben Monaten nicht nur einen Sohn geboren, sondern mit Unterstützern auch diesen Verein aus der Taufe gehoben, versehen mit dem Zusatz: "und der Stadtteilkultur im Westend". Sie will sich dem verpflichten, was war und noch immer zu sehen ist. Schließlich gilt das Westend, die Schwanthalerhöh", als einer der Orte, an dem mehr als nur Relikte eines proletarischen Milieus mit Charakter und Tradition existieren.

Bis in die 1970er Jahre hat dies der Schriftsteller August Kühn dokumentiert, dessen Biographie und Herkunft gezeichnet waren vom Wandel des Viertels. Aus dem Leben seiner Ahnen schuf er die Familienchronik "Zeit zum Aufstehn". Sie gilt als der Roman des Viertels schlechthin. Wegen Kühn kam es überhaupt zur Gründung von Jankowskys August-Kühn-Verein. Als erstes hat sich die Gruppe vorgenommen, sein längst vergriffenes Arbeiterepos wieder aufzulegen. Am 1. Januar kommt es in den Buchhandel.

"Vor drei oder vier Jahren habe ich den Roman gelesen, regelrecht gefressen, er war unglaublich spannend, vor allem die plastische Schilderung der Räterepublik." Nikola Jankowsky hatte zuvor nie etwas von August Kühn gehört. Dem Mann, der 1936 als Helmut Münch geboren wurde und wegen der jüdischen Abstammung seines Vaters von 1939 bis 1945 im Schweizer Exil gelebt hat. Als er anschließend nach München zurückkehrte, verdingte Kühn sich als Glasschleifer und entdeckte irgendwann sein Talent zum Schreiben. Er wurde Journalist, Kabarettist, Teilinvalide als Folge eines schweren Unfalls 1965 und sah sich als solcher genötigt, wieder ins abhängige Berufsleben zurückzukehren. Es bekam ihm nicht gut. Als er, Beschäftigter einer Speiseeisfirma, versuchte, dort einen Betriebsrat aufzubauen, wurde dem vermeintlichen Aufrührer gekündigt. Spätestens hier wiederholten sich in seiner Vita die Ungerechtigkeiten, die bereits seinen für Arbeiterrechte kämpfenden Vorfahren widerfahren waren. Kühn fasste als Angestellter nie mehr richtig Tritt. Wohl aber als freier Schriftsteller. Als 1975 das Buch "Zeit zum Aufstehn"erschien, wurde es Thema der Feuilletons und ein bundesweiter Erfolg. Das ZDF hat den Roman 1978 verfilmt.

Die Arbeiter-Saga galt in der deutschen Literaturszene als konsequenteste und bis dahin überzeugendste Darstellung proletarischen Lebens. Aus dem ebenso mühsam wie akribisch recherchierten Alltag der Familie von 1866 bis 1974 entsteht eine empathische Chronik der kleinen Leute. Wohl und Wehe der Kühns ist geprägt von den "Verhältnissen", Drecksarbeit in den Fabriken, Willkür der Justiz und Nazi-Terror. Kulisse der 450 Seiten ist im besten Sinne das Westend, dessen Aufstieg vom Elendsquartier zum städtischen Bezirk.

Kühn, der Chronist, der Kommunist, ist am 9. Februar 1996 gestorben, sein Buch nur noch antiquarisch aufzutreiben. Eine Schande, fand Jankowsky, die Studentin, die in der Verdi-Jugend aktiv ist. Einst millionenfach verkauft, dürfe es nicht einfach verschwinden. "Alle, denen ich das Buch zu lesen gegeben hatte, waren begeistert." Sie hat sich mit Kühns Witwe getroffen, Riyan Münch-Kühn. "Die hat zugesagt, uns die Rechte zu geben, wenn wir das Werk in einer gewissen Qualität herausbringen."

Seither sammeln die Leute um Jankowsky Spenden bei Stiftungen, im Bezirksausschuss, Verdi unterstützt das Projekt, Fürsprecher sind gefunden. Klaus Hahnzog, ehemaliger Münchner Bürgermeister und Bayerischer Verfassungsrichter, schrieb das Vorwort. Verlegt wird "der neue Kühn" im einzigen Verlag des Westends, "Verlag Das freie Buch". Den Umschlag mit seinem Blick über die Dächer des Quartiers hat die Wirtin des "Sti Maria" gemalt, Maria Joannidou C. Hoefner. Jankowsky lacht. "Das Motiv kennt im Westend jeder. Die Karte diente ursprünglich als Hintergrund für den Raucherausweis der Kneipe."

Mit "Zeit zum Aufstehn" ist der Anfang gemacht. Der August-Kühn-Verein will weitere seiner Werke wieder bekannt machen, aber auch Theaterstücke und Liederbücher der Arbeiterkultur. In Zeiten, in denen sich die Gesellschaft wieder in Arm und Reich zu spreizen beginnt, hat dies mit Maschinenöl-Romantik wenig zu tun.

Die erste Lesung von August Kühns Roman "Zeit zum Aufstehn" (19,90 Euro) ist am Sonntag, 13. Dezember, um 11 Uhr im DGB-Haus, Salettl, Schwanthalerstraße 6.

 

 

 


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.285, Donnerstag, den 10. Dezember 2009 , Seite 88